Lebensfragen: Wohin mit der Wut von pflegenden Angehörigen?

  • Pflege zu Hause

Menschen, die einen Angehörigen pflegen, arbeiten oft bis an den Rand der Erschöpfung. Wohin mit der Wut und Verzweiflung? Diese Frage beantwortet der Leiter der Telefonseelsorge Stuttgart Krischan Johannsen

Mann füttert Frau im Bett
© Diakonie/ Andreas Krufczik

Von morgens bis abends die Partnerin pflegen - manchmal wird es zu viel

„Es ist alles zu viel. Es ist schrecklich!“ In meinem Dienst bei der Telefonseelsorge höre ich eine völlig verzweifelte Frau ins Telefon schluchzen. Ihre Worte sind kaum zu verstehen, sie weint immer wieder herzzerreißend. „Ich verstehe Sie nicht so richtig“, sage ich. „Sie sagen, Sie haben ihn geschlagen?“ „Ja! Den Opa!“, schluchzt sie ins Telefon. „Ich halt‘s einfach nicht mehr aus! Ich kann nicht mehr. Es ist alles zu viel. Es ist schrecklich!“
Langsam und unter noch mehr Tränen erzählt sie ihre Geschichte. Wie sie so lang durchgehalten hat. Wie sie sich immer wieder gesagt hat, dass das wichtig sei, und dass der Opa doch zur Familie gehört, und dass die Kinder ihn trotz allem lieben. „Man kann ihn doch nicht wegstecken ins Heim!“, sagt sie. Ihr Vater lebt seit Jahren mit der Familie, wurde im Alter dement. Sie hat das über Jahre fast allein getragen. Trotz ihrer Erschöpfung hat sie ihn liebevoll gepflegt. Für sie ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber jetzt ist ihr die Hand ausgerutscht.

Er wird jetzt laut und schreit herum, wenn er etwas braucht, erzählt sie. Er kümmert sich weder um die Uhrzeit, die Kinder, noch um die Nachbarn. Zum hundertsten Mal hatte er sie einfach nicht begriffen, hatte sich stur in seiner Welt bewegt und so gar nicht Rücksicht genommen und verstanden. Schon wieder hatte er den Weg zur Toilette nicht gefunden und auch die Windeln konnten nicht alles halten. Es stank. Da hat sie ihn geschlagen. Ihre ganze Verzweiflung, ihre Überforderung war aus ihr herausgebrochen, und sie hat auf ihn eingeschlagen, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Und er? Hat sie plötzlich ganz wach angeschaut und geweint. Das hat ihr den Rest gegeben. Sie ist aus dem Zimmer gerannt. „Was soll ich denn nur tun? Ich schäme mich so!“

Sie schämt sich, dass sie sich wünscht, der Opa würde bald sterben

Es sind diese Geschichten, die mir an die Nieren gehen. Man möchte am liebsten durch das Telefon steigen, die Frau einfach in den Arm nehmen und sich ausweinen lassen. Um danach zum Opa zu gehen und die notwendigen Verrichtungen ausführen. Aber das geht alles nicht, und es wäre auch nur eine Hilfe für den Moment. Es geht auch nicht darum, ob es eine Krankenpflegestation gibt und eine Nachbarschaftshilfe, die einzuschalten wäre. Das weiß meine Anruferin längst, und sie nimmt diese Hilfe lang in Anspruch. Aber es sind eben nur Minuten und hin und wieder Stunden, die sie dadurch entlastet wird. Die Hauptlast bleibt bei ihr. Nicht Monate dauert ihre Plackerei – sondern Jahre. Sie kann nicht entrinnen und erlebt, wie die lebenslustige, frohe Frau, die sie einmal war, sich immer mehr verändert. Die Geduld für die Kinder ist weg, sie hat keine Freude mehr am Leben und an ihrem Mann. Und jetzt hat sie ihren Vater geschlagen.

Sie ist am Ende – aber es ist kein Ende in Sicht. Körperlich ist der Opa ziemlich rüstig, er wird nicht so bald sterben. Das sagt sie mir auch: Wie sie sich schämt darüber, dass sie sich wünscht, der Opa würde bald sterben. Sie ist entsetzt über sich. Das macht ihr umso mehr zu schaffen, als sie ihn wirklich pflegen will. Mit ihrem christlichen Glauben kann sie es nicht vereinbaren, ihn ins Heim geben – das wäre gegen all ihre ethischen Überzeugungen. Jetzt zweifelt sie an allem. Ich am anderen Ende der Telefonleitung kann ihr nur die Möglichkeit geben, die seelische Not abzuladen. Einen Raum bieten, wo sie klagen und schimpfen darf, laut und rüde. Wenn der Zorn sich nicht in Schläge verwandeln soll, dann muss er eben zu Worten werden. Es gehört zum Menschsein, dass wir nicht alles tragen können. Dem Entsetzen und dem Ekel Ausdruck zu verleihen, das muss sein. Über die praktischen Dinge kann man dann immer noch reden – später.

Trotzdem läßt mich das Gespräch auch etwas ratlos zurück. Was konnte ich der Frau geben außer meinen Respekt? Und wieder einmal tauchen meine eigenen Fragen auf. Wie möchte ich leben, wenn ich alt und hilfebedürftig bin? Und wie wird es dann wirklich? Das ist eine der Situationen, in denen ich das Gebet brauche, für die Ratlosigkeit, die Hilflosigkeit, für die Fragen. Da brauche ich einen, der mich hört.

Text: Krischan Johannsen, Leiter der Telefonseelsorge in Stuttgart