Lebensfreude - auch im Hospiz

Menschen, die für ihre letzten Wochen in ein Hospiz gehen, blühen oft noch einmal richtig auf. Fühlen sich befreit, probieren Neues aus. Und können so Abschied nehmen

Zwei Männer und seine Gitarre
© Andreas Unger

Singen die alten Lieder: Musiktherapeut André Hartinger (l.) und Hospizbewohner Georg Weiss

Jahrelang hat Hildegard Heidecker nicht mehr gemalt. "Mangelnde Kraft zur Gestaltung des eigenen Lebens. Depressive Zustände. Vertrödeln", sagt sie. "Jetzt hab ich plötzlich wieder damit angefangen, als ich hier im Flur des Hospizes so schöne Aquarelle gesehen habe." Sie wundert sich selbst darüber. Sie sitzt in einem großen, bequemen Stuhl und zeigt die Bilder vor sich auf dem Tisch, die sie in den letzten Wochen gemalt hat: Rosen in sattem Rot, ein Dorf unter grauschwarzem Sturmhimmel, ein Strauß gelber Tulpen. Viele kräftige Farben. "Ich hab angefangen mit einem ganz kleinen Block. Inzwischen traue ich mich an die größeren Sachen ran." Eine Kunsttherapeutin hat eins ihrer Aquarelle in ein Passepartout und einen Rahmen gelegt und im Zimmer aufgehängt, es zeigt einen Baumstamm, von Efeu überwuchert. "Ziemlich frei gemalt, weil ich gerade ungeduldig war. Das ist manchmal ganz gut beim Malen."

Hildegard Heidecker wird bald sterben. Sie weiß nicht wann, aber sie weiß, dass die Zeit bis dahin zum Leben gehört und dass diese Zeit kostbar ist. "Seit ich hier bin, hab ich so eine Freude auf die Zukunft. Ich freue mich auf das Jahr 2015! Was ich da alles machen kann! Es ist verrückt: Man ist im Hospiz gelandet in der Freude. Ich werd jetzt einfach jeden Tag nutzen."

Inge Schwager erlebt das öfter: dass Menschen, die hier im Stationären Hospiz der Diakonie Erlangen einziehen, noch einmal aufblühen. Schwager, eine gelernte Krankenschwester, leitet das Haus, wo bis zu zwölf Menschen den letzten Teil ihres Lebens verbringen. Jeder hat ein Zimmer für sich, etwa 20 Quadratmeter groß. Wer will, kann eigene Bilder aufhängen, Möbel umräumen oder die eigenen mitbringen. Hildegard Heidecker hat sich mit Hilfe ihrer Schwester einen Plan für ihr Zimmer gezeichnet.

Dem Raucher sagt niemand mehr, wie ungesund Tabak ist.

Ganz wichtig für eine gute Hospizarbeit ist es, die Angehörigen mit einzubeziehen, sagt Schwager. In vielen Fällen hätten diese eine lange Zeit des Pflegens und auch der Überforderung hinter sich. Sie seien froh, sich nicht mehr 24 Stunden lang kümmern zu müssen, endlich Verantwortung abgeben zu dürfen. Dadurch entstünden auch wieder Ressourcen für wichtige Gespräche, für Zweisamkeit, fürs Abschiednehmen. "Hier haben Bewohner und ihre Angehörigen die Sicherheit, dass sofort jemand kommt, wenn der Bewohner klingelt.

Das Hospiz, das ist Schwager wichtig, stehe jedem Sterbenden offen. Auch für Arme: "Das hier ist kein Sterben für Reiche." Die Pflegesätze werden jedes Jahr neu mit den Krankenversicherungen und dem Bezirk verhandelt. Ein Zehntel des Tagessatzes muss von der Einrichtung übernommen werden, dies macht der Hospizverein.

Schwager spricht von "Bewohnern" und "Gästen", nicht von "Patienten" oder "Klienten". Denn hier im Hospiz werden keine Therapien durchgeführt, sondern Schmerzen gelindert. Dem Raucher sagt niemand mehr, wie ungesund Tabak ist, und wer nichts mehr essen oder trinken will, wird dazu auch nicht angehalten. "Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen", sagt Schwager. "Es war ganz normal, wenn alte Leute irgendwann aufgehört haben zu essen und zu trinken. Auch bei uns bestimmt der Bewohner, wie es abläuft. Wir unterstützen ihn nur, geben Sicherheit und Geborgenheit. Das Wort 'palliativ' kommt vom lateinischen Wort 'pallium' und heißt 'der Mantel'."

"Ich will den Menschen helfen, einen Moment lang ganz im Moment zu sein."

Heute hat Hildegard Heidecker Besuch von André Hartinger bekommen. Hartinger, ein 42-Jähriger mit kurz geschnittenen silbergrauen Haaren und Bart, hat eine Gitarre mitgebracht und Klangschalen, eine Sansula und ein Körpermonochord. Er nennt sich "Klangarbeiter". Heute bietet er Hildegard Heidecker Klangschalen an - drei messingfarbene runde Schalen, die er ihr nacheinander in die linke Hand gibt. In die rechte nimmt sie einen Schlegel aus Holz und Filz, schlägt die Schalen an, horcht ihnen nach, schließt die Augen. "Ich höre den Ton. Und ich spüre ihn, bis hoch zur Schulter", sagt Heidecker nach einer langen, stillen Weile verwundert. Sie schlägt noch zwei weitere Klangschalen an, überlegt, welcher Ton ihr am besten gefallen hat. Es passiert nichts Spektakuläres. "Ich will den Menschen helfen, einen Moment lang ganz im Moment zu sein", erklärt Hartinger später. "Ich erlebe hier häufig Menschen, die bei sich selbst sind, klar mit ihrer Situation, und die dann auch genießen können, weil die Zeit so kostbar ist."

André Hartinger verabschiedet sich nach einer Weile von Hildegard Heidecker und klopft an die Tür von Georg Weiss. Er ist 88 Jahre alt und sitzt gerade am Tisch und löst Kreuzworträtsel. Hartinger begrüßt ihn, setzt sich dazu mit seiner Gitarre und ein paar Liedblättern und fragt ihn, ob er Lust habe zu singen. Weiss schiebt sein Kreuzworträtsel zur Seite und lässt sich überraschen.

Sie singen "Mein kleiner grüner Kaktus", "Wenn alle Brünnlein fließen", "Die Blümelein, sie schlafen", "Kindlein mein, schlaf nur ein". "Das kennen Sie?", fragt Hartinger verwundert. "Na, mit sechs Kindern, da lernt man schon das ein oder andere Schlaflied. Das hab ich über 50 Jahre lang nicht mehr gesungen", sagt Weiss, und ihm tritt eine Träne ins Auge. Er will trotzdem weitersingen: "In einem kühlen Grunde", das alte Gedicht von Joseph von Eichendorff. Sie singen. Hartinger zögert, als es an die letzte Strophe geht.

"Es kommt sehr viel zurück von den Menschen."

"Es gibt noch eine", sagt Weiss. "Wollen wir noch?", fragt Hartinger. "Ja freilich", antwortet Weiss. Sie singen: "Hör' ich das Mühlrad gehen, / Ich weiß nicht, was ich will / Ich möcht' am liebsten sterben, / Da wär's auf einmal still!" "Wie wir's angefangen haben, hat's mich ein bisschen gepackt", sagt Weiss. "Mich auch", sagt Hartinger. "Aber wir haben's durchgehalten." "Das ist doch schön, wenn man solche alten Lieder singt und sich auch hineinfühlen kann", sagt Weiss. "Es bewegt das Gemüt, es bewegt den ganzen Menschen."

Den Helferinnen und Helfern geht es nicht darum, nur eine professionelle Dienstleistung abzuliefern. "Wir versuchen, den Bewohnern möglichst viel Lebensqualität zu geben", sagt Schwager. "Wir haben festgestellt: Wenn die Symptome eingestellt sind, die Bewohner also keine Schmerzen mehr haben und die Übelkeit weitestgehend verschwunden ist, dann haben die Leute noch Lebensqualität und können auch in ihrer Krankheit das Leben noch genießen."

Durchschnittlich 22 Tage leben die Bewohner noch im Erlanger Hospiz. Wenn jemand stirbt, wird im Gang eine Kerze angezündet, die so lange brennt, bis der Verstorbene abgeholt wird. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erleben das zwar regelmäßig - aber Routine sei das nie, sagt Schwager. "Einmal starben in vier Wochen 20 Bewohner. An einem Tag brannten vier Kerzen, das geht nicht spurlos an einem vorbei. Man braucht einen Ausgleich, Freizeit, Freunde, Sport. Und Supervision, einmal im Monat, bei Krisenfällen auch kurzfristig." Wenn es ums eigene Sterben geht, sind alle Menschen Anfänger. Aber es gibt hier im Hospiz Menschen, die sich auskennen in der Sterbebegeleitung, und zwar nicht nur hauptamtliche Krankenschwestern und -pfleger, sondern auch viele ehrenamtliche freiwillige Helferinnen und Helfer.

Eine von ihnen ist Katharina Reinhardt, eine Lehrerin, die ungefähr einmal pro Woche für einen halben Tag hereinkommt, als "Mädchen für alles", wie sie sagt. Dazu gehören nicht nur das Einräumen der Wäsche, das Ausräumen des Geschirrspülers und das Kaffeekochen, sondern auch das Zöpfeflechten, Händchenhalten, Zuhören.

"Mir ging's immer gut, ich hatte keine großen Schicksalsschläge im Leben, und ich finde, jetzt ist es Zeit geworden, etwas davon zurückzugeben", sagt sie. Alle Freiwilligen bekommen eine etwa 120 Stunden dauernde Ausbildung, in denen Lehrer ihnen das pflegerische Einmaleins nahebringen, aber auch rechtliche Grundlagen der Hospizarbeit und wie man auf sensible Art Gespräche führt. Nach getaner Arbeit geht Katharina Reinhardt wieder nach Hause. Und wundert sich, wie wenig sie die Mitarbeit im Hospiz belastet. "Ich gehe eigentlich immer freudig von hier weg. Denn es kommt auch sehr viel zurück von den Menschen."

Manche der Bewohner kostet es Überwindung, hierher zu ziehen. Es setzt das klare Bewusstsein dafür voraus, dass das eigene Leben bald zu Ende gehen wird. Der Trost, den das Hospiz verheißt: Bis das Leben zu Ende ist, ist es noch nicht zu Ende. Das gilt draußen vor dem Haus, wo Vögel in den Bäumen zwitschern und Kinder während der Pause in der Schule nebenan lachen. Und drinnen, wo es meistens stiller zugeht, aber immer auch lebendig.

Text: Andreas Unger