Zusammen ist man weniger allein

  • Hilfe bei Behinderung

Er wollte sich wieder nützlich fühlen. Sie war einsam. Dank der Hamburger Initiative Q8 kamen Heinz und Gudrun zusammen.

Heinz schiebt Gudrun im Rollstuhl durch Hamburg-Altona
© Diakonie/Heike Günther

Heinz Tiffert kümmert sich ehrenamtlich um Gudrun Martinsen

"Hallo, die Dame!" Heinz Tiffert lächelt. Er legt die Hand auf Gudrun Martinsens Schulter und streicht der 53-Jährigen im Rollstuhl sanft über den Kopf. Dann schweift sein Blick durch den Raum, und er ruft, jetzt an alle gerichtet: "Hallo, die Damen!" Die Mitarbeiterinnen der Ta­gesstätte in Hamburg-Altona, die Gu­drun Martinsen zweimal pro Woche besucht, teilen seine Begeisterung für den FC St. Pauli, man tauscht sich kurz über die Spielergebnisse aus, die eher negativ ausfielen. "Ich musste den Traueranzug aus dem Schrank holen", sagt der 58-jäh­rige Tiffert und lacht, bevor er sich wie­der ganz auf Gudrun Martinsen konzen­triert und ihr beim Anziehen hilft. Montags und freitags holt er sie hier ab. "Dann gehen wir erstmal ein Käff­chen trinken", sagt sie. Anschließend bringt Heinz Tiffert sie nach Hause. "Sie ist eine ganz Liebe", sagt er. Und sie: "Er ist ein netter Mann."

Heinz Tiffert und Gudrun Martinsen sind Freunde. Gegenseitig bereichern sie ihr Leben. Er verlor schon vor Jahren die Arbeit als Möbelpacker, dann endete auch noch sein Ein-Euro-Job, dabei wollte er sich doch noch so gern nützlich machen. Sie konnte infolge einer Operation nicht mehr gehen und lebte nach dem Abschluss der Förderschule bei der Mutter. Als diese starb, er­schien ihr das Leben hoffnungslos. Dass die beiden vor einem Jahr zueinandergefunden haben, verdanken sie Q8.

Die Initiative der Evangelischen Stif­tung Alsterdorf kümmert sich um sozi­ale Stadtentwicklung – im Kleinen wie im Großen. Sie initiiert und begleitet Projekte, die Menschen aus der Nachbar­schaft zusammenbringen, die einander etwas geben können und verweist auf hilfreiche Institutionen. Sie vernetzt Gruppen, die voneinander profitieren könnten. Und sie vermittelt zwischen den widerstreitenden Interessen im Quartier, um dort ein Umfeld zu schaf­fen, in dem sich alle aufgehoben fühlen.

Vermitteln zwischen widerstreitenden Interessen

Mit Hilfe von Q8 füllt die Evange­lische Stiftung Alsterdorf das Wort Inklusion mit Leben. Sie ist ein diakonisches Sozialunternehmen mit 152-jäh­riger Geschichte. Noch vor 35 Jahren lebten die von ihr versorgten Menschen mit Behinderung abgeschieden auf einem Gelände im Hamburger Stadtteil Alsterdorf. Heute arbeitet die Stiftung an mehr als 180 Stützpunkten, verteilt über die gesamte Stadt. So können diejenigen, die Assistenz benötigen, im gewohnten Umfeld bleiben.

Doch um ein echtes Miteinander im Stadtteil zu erreichen, in das die Men­schen mit Behinderung wirklich einge­bunden sind, reichen dezentrale Ange­bote nicht. Das wurde Hanne Stiefvater, Vorstand der Evangelischen Stiftung Al­sterdorf, schon vor fünf Jahren klar. Sie fördert die Initiative Q8 von Beginn an. Das Ziel: Alle Menschen im Quartier miteinander zu vernetzen – ob mit oder ohne Behinderung, ob Migranten, Sin­gles oder Familien, ob Senioren oder Alleinerziehende. Niemand soll sich, warum auch immer, ausgegrenzt fühlen, es geht um Inklusion für alle.

Gleichzeitig vermittelt Q8 zwischen den Bewohnern und der Politik, zwi­schen Zivilgesellschaft, Behörden und dem Markt. "Wir schaffen Gelegenheiten, damit sich Bedarfe, Ideen, Menschen und Ressourcen zu guten Lösungen ver­binden können", sagt Q8-Leiterin Karen Haubenreisser.

Wenn die von Q8 begleiteten Projekte die Menschen aus dem Stadtteil mitein­ander bekannt machen, soll eine Win­-Win-Situation entstehen. So war es bei Heinz Tiffert und Gudrun Martinsen, so hat es auch Ruth Riedel erlebt. Die 63-Jäh­rige wollte den Lebensabend nicht allein verbringen und schloss sich einer Grup­pe an, die unter dem Motto "Gemeinsam älter werden" ein gemeinsames Wohn­projekt plante. Die Gruppe wollte sich um ein Gelände nahe dem Bahnhof Alto­na bewerben, das von der Stadt Hamburg für sozialen Wohnraum vorgesehen war. Doch es war äußerst unsicher, ob sie den Zuschlag für eines der begehrten Grund­stücke bekommen würde. Zumal die Gruppe eigentlich zu klein war für die siebenstöckigen Gebäude, die dort ge­plant waren. Da wusste Q8-Leiterin Ka­ren Haubenreisser Rat.

Hausgemeinschaft von älteren Türken und Deutschen

Sie kannte eine Gruppe älterer Türken, die sich im Kul­turzentrum Mekan trafen und ebenfalls nach einer Möglichkeit suchten, das Al­ter gemeinsam in einem Haus zu ver­bringen. Die deutschen und die tür­kischen Senioren taten sich zusammen, ihr Verein hieß fortan „Mit Mekan ge­meinsam älter werden“. Das interkultu­relle Wohnprojekt für Menschen ab 60 Jahre überzeugte die Verantwortlichen bei der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen, die über die Grundstücke zu entscheiden hatten. Für die ehema­lige Kita-Leiterin Ruth Riedel ist klar: "Wir haben den Bauplatz auch deshalb bekommen, weil Mekan dabei ist." Der integrative Aspekt machte das Senioren­projekt zu etwas Besonderem, obendrein sorgten die Türken für einen hinrei­chenden Anteil von Menschen mit gerin­ger Rente.

Fatma Çelik vom Mekan-Vorstand sagt ihrerseits: "Ohne die deutsche Grup­pe hätten wir es nie geschafft." Denn die Konkurrenz um die geförderten Grund­stücke war groß. Sich da im anspruchs­vollen Vergabeverfahren mit einer über­zeugenden Präsentation durchzusetzen wäre ihr nie gelungen, meint sie. So ha­ben beide Seiten voneinander profitiert und freuen sich gemeinsam auf das Zusammenleben. Fatma Çelik sagt strah­lend: "Ich träume schon davon." Und Ruth Riedel, die vorher nie im Kulturzentrum Mekan gewesen ist, schaut nun öfters dort vorbei. Ihr ist ein herzlicher Empfang gewiss. Innige Umarmungen, strahlende Gesichter. Der selbst gebacke­ne Kuchen steht dann auf dem Tisch, um den sich ein gutes Dutzend Frauen ver­sammelt hat. Es wird geplaudert und viel gelacht. Ein paar Frauen spielen Okey, ein in der alten Heimat beliebtes Spiel, das Rommé ähnelt. "Ich mag Fatma, Seher und die anderen richtig gerne", sagt Ruth Riedel. Und betont auch: "Ohne Q8 wür­de es unsere Baugruppe nicht geben.“

Dass sie die Bedeutung der Initiative hervorhebt, freut wiederum Karen Hau­benreisser. Denn Q8 befindet sich in einer paradoxen Lage. "Wir schaffen Kon­takte und machen es so möglich, dass die Menschen selber handeln", sagt sie. "Je besser wir unsere Aufgabe erfüllen, des­to unsichtbarer sind wir." Umso wich­tiger für die Initiative ist die Mund-zu­Mund-Propaganda – dass also diejenigen, die von ihr profitiert haben, anderen da­von berichten.

Das Neubaugebiet am ehemaligen Bahn­gelände Altona zeigt auch, das Q8 nicht nur direkte Partnerschaften vermittelt, sondern auch den Rahmen für ein gutes Miteinander schafft und die Entwick­lungen im Stadtteil wachsam begleitet. Im neu entstehenden Quartier Mitte Al­tona werden 3600 Wohnungen gebaut, die je zu einem Drittel als Eigentums-, Miet- und Sozialwohnungen gedacht sind. Ein solches Mammutprojekt birgt die Gefahr, dass dort ein kaltes Neubauvier­tel entsteht, das wie ein Fremdkörper in den bestehenden Stadtteilstrukturen wirkt.

Realitätssinn und Konsensfähigkeit

Doch es bietet auch die Chance, die Bürger von Beginn an einzubinden und ein Quartier zu schaffen, das den Zugezo­genen wie auch den Bewohnern der angrenzenden Straßen ein lebendiges Um­feld bietet. Schon 2012 lud Q8 deshalb zu einem Bürger forum unter dem Motto "Eine Mitte für Alle" ein. 240 Menschen kamen, um ihre Wünsche an das neue Viertel vorzubringen. Rund die Hälfte von ihnen traf sich weiterhin und for­mulierte schließlich die Ziele, die dort verwirklicht werden sollten. Der Katalog reicht vom weitgehend autofreien Woh­nen mit angegliederter Car-Sharing-Station über umfassende Barrierefrei­heit bis hin zur Integration von Flücht­lingen. Inzwischen hat die Altonaer Be­zirksversammlung, die im Bundesland Hamburg den Gemeinderat darstellt, dem Konzept einstimmig zugestimmt – ein Kompliment für Realitätssinn und Konsensfähigkeit der beteiligten Bürger und eine Bestätigung der Arbeit von Q8.

Auch im angrenzenden Viertel Altona-Altstadt verändert sich vieles. Seit hier das Möbelhaus Ikea eröffnete, ist das ehe­mals randständige Quartier im Um­bruch. Laden- und Wohnungsmieten ex­plodieren, es droht die Gentrifizierung. Umso wichtiger ist es, die gewachsenen Strukturen zu stärken und neue Netze zu spannen. Dazu trägt das Q8-Projekt Alto­navi bei, eine Kombination aus Infozen­trum und Freiwilligenbörse, dessen Tü­ren direkt an der Fußgängerzone für jedermann offen stehen. "Damit schaffen wir ein neues Miteinander im Stadtteil", sagt Karen Haubenreisser. "Im Idealfall kommt eine Frau, weil sie ein Kinderfahr­rad zu verschenken hat, und geht mit einem freiwilligen Engagement."

Egal, ob die Menschen jemanden zum Kartenspielen, Hilfe beim Antrag auf Witwenrente oder bei der Reparatur der Waschmaschine suchen, ob sie einen Kita-Platz oder einen Pflegedienst brau­chen, die Damen vom Altonavi wissen Rat. Das Besondere an dem Service, der die Altonaer durch ihren Stadtteil navi­giert: Er vermittelt sowohl ehrenamt­liche als auch professionel le Unter­stützung. Dabei kooperiert er eng mit sämtlichen Trägern, Dienstleistern und Institutionen im Bezirk – wo sonst Kon­kurrenz um Kunden herrscht, fördert er die Zusammenarbeit.

"Sing mir mal mein Lieblingslied!"

Nur so erfuhr Altonavi von der ehe­maligen Lehrerin, die in einer Senioren­anlage lebte und nicht mehr zum Ein­kaufen gehen konnte. Als dann ein Marokkaner vorbeikam, der Unterstüt­zung beim Deutschlernen brauchte, war das Tandem perfekt. Die beiden konnten sich gegenseitig helfen. Von Gudrun Martinsen hörten die Mit­arbeiterinnen übrigens durch den Assis­tenten, der sie unterstützt. Mit Heinz Tiffert entkommt sie nun endlich ihrer Einsamkeit. Und auch Tifferts Leben ist bunter geworden. Er stürzte sich mit Be­geisterung in die Aufgabe, Gudrun Mar­tinsen aufzumunter n. Zudem wurde ihm ein Pflegekurs vermittelt. Den habe er erfolgreich absolviert und gleich noch ein Seminar zum Thema Demenz drangehängt, erzählt Tiffert. Dass er die Fort­bildungen bewältigt hat, erfüllt ihn mit Stolz. Jetzt bekommt er 104 Euro im Mo­nat dafür, dass er die Rollstuhlfahrerin regelmäßig aus der Tagesstätte abholt und die Pflegekasse so den Fahrdienst spart. "Aber ich würde das auch ohne das Geld machen", sagt der 58-Jährige.

Längst ist ihm die Freundschaft viel zu wichtig, als dass er sie jemals aufge­ben würde. Die gemeinsamen Café-Be­suche, die Ausflüge in den Zoo, auf den Friedhof zum Grab der Mutter oder auch zum Schlager-Move, bei dem eine sin­gende Menge die Straßen füllt, machen beiden Spaß. "Sing mir mal mein Lieblingslied, Gu­drun", bittet Heinz Tiffert. Den Wunsch er füllt Gudrun Martinsen ihm gerne, mit zarter Stimme hebt sie an: "Atemlos durch die Nacht ..." Und beide lachen.

Text: Diakonie/Ulrike Meyer-Timpe