Arten der Pflege: Die richtige Wahl

  • Hilfe im Alter

Heim, Wohngemeinschaft oder häusliche Pflege? Drei pflegebedürftige Menschen in Berlin haben ihre Lösung gefunden – jeder eine andere

Frau im Bett
© Diakonie/ Andreas Krufczik

Dagmar Habl wird zu Hause von der Diakonie und ihrem Freund gepflegt

2004 sollte ihr Leben für  immer verändern: Dagmar Habl, damals 57 Jahre alt, saß  neben ihrem Partner auf der Couch, die Nachrichten liefen. Sie wollte aufstehen, ein Getränk holen oder etwas zum Naschen, so genau weiß sie das heute nicht mehr. Als sie sich vom Sofa erhob, war ihr schwindelig, so sehr, dass sie auf dem Weg in die Küche taumelte – und auf die harten Rohre eines Heizkörpers fiel. Ein Notruf und eine Fahrt ins Krankenhaus später kam die Diagnose: Schlaganfall. Eine Woche nach der Entlassung aus dem Hospital hörte ihr Freund erneut einen Knall aus dem Nebenzimmer: wieder ein Schlaganfall. Seitdem sitzt Dagmar Habl im Rollstuhl und hat Probleme mit dem Sprechen. Pflegestufe 3, Schwerstpflegebedürftigkeit. An guten Tagen kann sie ein paar Schritte gehen. Aber sie ist immer auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Viermal am Tag klingelt es jetzt an der Wohnungstür ihrer 70-Quadratmeter- Wohnung in Berlin-Kreuzberg: um 7, 13, 16 und 19 Uhr. Dann kommt eine Pflegekraft der Diakonie-Sozialstation Südstern vorbei, um sie zu unterstützen. Dagmar Habl wohnt mit ihrem Partner Michael Schulze zusammen. Er hilft ihr viel. Aber die beiden wollen weiterhin ein Liebespaar sein. Deswegen haben sie entschieden: Die intimeren Aufgaben der Pflege soll jemand anderes übernehmen. „Ich bin Dagmars Freund, nicht ihr Pfleger“, meint Michael Schulze, und: „Es gibt Augenblicke in der Pflege, in denen man sich als Paar voneinander entfernt.“ Als er das sagt, liegt Dagmar Habl lächelnd in ihrem Bett und nickt ihm zu. Er greift ihre Hand und streichelt sie.

„Für ein Heim bin ich zu jung“, sagt Dagmar Habl. Solange wie es geht, kann sie in ihrer Wohnung bleiben – so haben sie und ihr Freund es verabredet. In Deutschland werden mehr als zwei Drittel der 2,4 Millionen Pflegebedürftigen zu Hause versorgt. Viele unterschätzen, was Pflege bedeuten kann: ein Fulltime- Job. Ulrike Jaeger von der Diakonie-Station Südstern trifft regelmäßig auf Menschen, die ihren Angehörigen versprechen, sie bis zum Lebensende zu pflegen, und dann feststellen müssen: Dieser Aufgabe sind sie nicht gewachsen. Besser sei es, zu sagen: „Wir pflegen dich, solange wie möglich. Und dann finden wir gemeinsam eine andere Lösung“, rät Jaeger.

Intime Aufgaben der Pflege übernehmen Pflegekräfte der Diakonie

Michael Schulze ist seit den Schlaganfällen seiner Freundin immer für sie da, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Davor war er arbeitssuchend, danach hat ihn das Jobcenter „zur Pflege einer bedürftigen Person“ befreit, wie es im Behördendeutsch heißt. Der 53-Jährige bezieht Hartz IV, obwohl er eigentlich vollbeschäftigt ist. Seine Aufgaben: Einkaufen, Kochen, Behördengänge und Arztbesuche erledigen, und immer ein Ohr bei seiner Freundin haben – auch nachts. Seit 2004 hat er einen sehr leichten Schlaf. Die Angst, es könne wieder etwas Schlimmes passieren, sei immer da. Mit leuchtenden Augen spricht Schulze über Marina und Jörg, Pflegekräfte der Diakonie, die ihn schon sehr lange unterstützen. „Ohne sie würde ich das alles nicht packen.“ Die Arbeit und Unterstützung des ambulanten Pflegedienstes geht über die Pflege seiner Freundin hinaus. Mittlerweile habe sich auch eine Freundschaft entwickelt, sagt Schulze. „Die kommen öfters einfach so vorbei und schauen einen Film mit uns.“
Die Liebe zwischen Dagmar Habl und Michael Schulz begann kurz vor der Wende, im Jahr 1989. „Wie waren Junkies“, sagt Schulze. Das Paar lebte in einer Wohnung in Schöneberg nah an der Kurfürstenstraße, die bis heute als Drogenstrich gilt. Für den nächsten Schuss waren sie als Team unterwegs. In Supermärkten klauten sie Alkoholflaschen, die sie in Kneipen weiterverkauften. „Ein klassischer Fall von Beschaffungskriminalität“, nennt das Schulze heute. Während seines Gefängnisaufenthalts kam ihnen die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. Sie entschieden sich für ein Methadonprogramm. Gemeinsam überwanden sie ihre Sucht. Ohne seine Dagmar hätte er das nie geschafft, sagt Michael Schulze. Für ihn kam es nie in Frage, von der Seite seiner Freundin zu weichen. „Was wir erlebt haben, schweißt zusammen“, sagt Michael Schulze und fügt hinzu: „Für immer.“

Alter Mann beim Essen
© Diakonie/ Andreas Krufczik

Heinz Dohrmann lebt gerne im Pflegeheim der Diakoniestiftung Lazarus

Berlin-Mitte, Bernauer Straße, unweit der Gedenkstätte Berliner Mauer: Hier steht das Lazarus Haus, das Pflegeheim der Diakoniestiftung Lazarus. Es ist das Zuhause von Heinz Dohrmann: ein schlaksiger, 86-jähriger Herr mit Berliner Schnauze und einer ordentlichen Portion Schalk im Nacken, der sich gern mit diesen Worten vorstellt: „Gestatten: Dohrmann – D wie Dora, kleines Ohr, großer Mann.“ Es ist drei Uhr nachmittags. Heinz Dohrmann hat in seinem Zimmer gerade eine Partie Rommé beendet. Nun ist es Zeit für einen Besuch eines besonderen Ortes. Er streift seinen grauen Anorak über, schließt die Zimmertür ab und schlurft mit seinem Gehwagen über den Flur Richtung Fahrstuhl, der ihn in das Erdgeschoss bringt. Von dort geht es weiter zum Garten des Lazarus Hauses. Vor einem Bäumchen bleibt er stehen. Er blickt auf ein Stück Papier, das in Plastikfolie eingeschweißt ist und an die Äste befestigt wurde. Handschriftlich steht dort: „Diese Rotbuche wurde am 14.04.2012 gepflanzt – zum Andenken an Herta Dohrmann.“

Heinz und Herta. Heinz Dohrmann lernte Herta im Sommer 1949 auf dem Polterabend seines besten Freundes kennen und verliebte sich sofort in das Mädchen mit den schwarzen Haaren und der braun gebrannten Haut, die durch einen glücklichen Zufall seine Tischdame war. „Herta ist 60 Jahre meine Tischdame geblieben“, erzählt er heute stolz. So lange waren sie verheiratet. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachten die Dohrmanns nur wenige Meter vom Lazarus Haus entfernt. Ihre Zweizimmerwohnung lag ein paar Häuserblocks weiter.

Zeit für ein neues Zuhause

Das Ehepaar ließ sich im Lazarus Haus die Füße pflegen. Und manchmal, wenn Heinz Dohrmann mit seiner Frau am Pflegeheim vorbei spazierte, sagte er zu ihr: „Siehst du, Herta? Da wohnen wir bald!“ Seine Frau ging darauf lange gar nicht ein. Auch als die Ärzte bei ihr Knochenschwund und Parkinson diagnostizierten: Sie wollte für immer in ihrer Wohnung bleiben. Doch dann verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand, und sie musste einsehen, dass es Zeit für ein neues Zuhause war. Ihre Tochter Karin, die ihren Vater bis heute mehrmals in der Woche besucht, kümmerte sich um den Umzug. Glücklicherweise war im Lazarus Haus gerade ein Zimmer frei. Karin Dohrmann war erleichtert, weil sie wusste, dass ihre Eltern dort rund um die Uhr ärztlich versorgt sind.

Die ersten Tage waren schwierig für Herta Dohrmann. Sie musste sich daran gewöhnen, dass die Pflegekräfte im Heim ihr viele Dinge abnahmen. Sie war es gewohnt, im Haushalt zu arbeiten und hatte gern für die ganze Familie gekocht. Nach den ersten Wochen gefiel es Herta Dohrmann aber immer besser im Lazarus Haus – vor allem wegen der vielen Freizeitangebote. Mit ihrem Mann ging sie zu Konzerten und Lesungen.

"Ich möchte hier bleiben bis an mein Lebensende"

Jeden Sonntag besuchten sie den Gottesdienst. Anschließend gab es Kaffee und Kuchen im nahe gelegenen „Mauercafé“. „Es hätte ruhig noch ein bisschen so weitergehen können“, sagt Heinz Dohrmann heute. Aber dann brach sich seine Frau im Jahr 2011 das Bein. Sie war auf dem Weg zur Toilette an eine Kante gestoßen, und da ihr Knochenschwund schon so weit fortgeschritten war, führte das zu einem Bruch. Es folgten ein Aufenthalt in der Charité und ein paar Wochen in einer Rehaklinik. Die Therapie schlug nicht an, da ihr die fremde Umgebung suspekt war. Die 86-Jährige wollte eigentlich nur eines: zu Heinz zurück ins Lazarus. Nach ihrer Rückkehr verbrachte Herta Dohrmann noch ein paar Tage mit ihrem Mann, bis sie in einer Novembernacht 2011 einschlief und nicht mehr aufwachen sollte. Aus dem Zimmer des Ehepaars ist nun das Zimmer von Heinz Dohrmann geworden. Hertas Bett steht hier aber immer noch. Für manche Menschen mag es unvorstellbar sein, das Sterbebett des Angehörigen ständig vor Augen zu haben. Für Heinz Dohrmann ist es ein Stück Lebensqualität, denn es erinnert ihn an seine geliebte Frau. „Deswegen möchte ich hierbleiben – bis an mein Lebensende “, sagt der Berliner, der so fit und lebensfroh ist, dass man wohl behaupten kann: Mit dem Lebensende wird es wohl noch eine Weile dauern.

alte Frau
© Diakonie/ Andreas Krufczik

Maria Kammer fühlt sich in ihrer Demenz-WG wohl

Maria Kammer weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis sie vergessen hat, wer Maria Kammer eigentlich ist. „Es kommt schleichend“, sagt sie. Die 80-Jährige hat Demenz, eine Krankheit, deren Verlauf schmerzhaft ist, weil die Betroffenen nach und nach merken, wie das eigene Ich zerfließt. Die ersten Symptome ihrer Krankheit zeigten sich vor drei Jahren. Da wohnte sie im Herzen Berlins in der Prinzenstraße in Kreuzberg. Sie kam zurecht in ihrer Wohnung, bis sie begann, Dinge zu vergessen. Zum Beispiel das Essen. In den ersten Wochen wechselten sich ihre Töchter noch mit täglichen Besuchen und dem Kochen ab. Dann entschied die Familie: Es ist besser, wenn sie permanent betreut wird. Über ein Pflegeheim wurde gar nicht erst diskutiert. Das kam nicht infrage. Denn Maria Kammer hatte jahrzehntelang direkt an einem Grenzübergang von Ost- nach Westberlin gewohnt. „Ich habe lange genug auf die Mauer geschaut“, sagt sie. Auch wenn sie weiß, dass in den meisten Heimen keine Mauern existieren, sagt sie: „Frei wäre ich dort trotzdem nicht.“ Jetzt wohnt Maria Kammer seit drei Jahren in einem beliebten Viertel Berlins, dem „Graefekiez“ in Kreuzberg. Sie lebt in einer geräumigen 400-Quadratmeter-Wohnung mit elf anderen Menschen, die die gleiche Krankheit haben wie sie. Es ist die „Demenz-WG“ der Diakonie Südstern.

Fünfzehn Uhr, Kaffeezeit. Maria Kammer sitzt an einem Tisch im Wohnzimmer ihrer Wohngemeinschaft: ein großer lichtdurchfluteter Raum, dank einer Fensterfront vor der Gartenterrasse. Sie hat einen Kaffee, ein Stück Kuchen und ein Glas Rote- Bete-Saft vor sich. Neben ihr sitzt eine Frau mit dem gleichen Gedeck. „Hildegard, trink bitte deinen Saft!“, sagt Maria Kammer zu ihrer Freundin. „Ja, ja, ich mach ja schon“, erwidert diese und nimmt einen kräftigen Schluck. „Frau Kammer passt immer ein bisschen mit auf“, sagt später Heike Mengering, die als Pflegerin in der WG arbeitet. Wahrscheinlich, so meint sie, hätte die Frau den Saft nicht getrunken, wenn eine Pflegekraft sie darum gebeten hätte.

Pflegekräfte sind nur Gäste in der WG

Jeweils vier Pflegende sind täglich im Früh- und im Spätdienst in der Wohngemeinschaft. „Kompetent in der Pflege von Demenzkranken“, beschreibt Ulrike Jaeger von der Diakonie Südstern das Profil ihrer Mitarbeiter. Und das bedeute: zuhören, den Menschen auf Augenhöhe begegnen. Und gelassen bleiben, wenn zum Beispiel ein Bewohner nachts um zwei auf die Idee kommt, in sein Auto zu steigen, und sagt, er müsse zur Arbeit fahren. Grundsätzlich müsse den Pflegekräften immer bewusst sein: „Sie sind nur Gäste in der WG“, sagt Ulrike Jaeger. Es gibt auch keine Aufenthaltsräume für die Pflegekräfte, und ein Büro etwa sucht man vergeblich.

Das Konzept der Wohngemeinschaft beinhaltet keine Strukturen, die an ein Heim erinnern. Maria Kammer ist eine normale Mieterin in einer WG, die von einem ambulanten Pflegedienst betreut wird. Sie hat ein eigenes Zimmer mit Möbeln, die ihr gehören, und persönlichen Gegenständen. Wenn in der WG gekocht wird, helfen alle mit, die noch fit genug sind. Maria Kammer schält am liebsten Kartoffeln. Sie geht gern zur Musiktherapie und freut sich jeden Tag auf die Zeitungslektüre. Der Alltag verschafft ihr soziale Kontakte und fördert ihre geistige Aktivität. So wird der Prozess verlangsamt, der das Gehirn in sich zusammenfallen lässt. Allerdings: „Aufhalten kann man das nicht“, sagt sie, „das habe ich schon verstanden.“ Es fehle ihr an nichts in der WG, sagt Maria Kammer. Über eine Sache sei sie dann aber doch ein kleines bisschen betrübt: die Männerquote in der WG: elf Frauen, ein Mann – das gefällt ihr nicht. „Noch ein gutaussehender Kerl. Das wär‘s doch!“, sagt sie augenzwinkernd. Ihre These: Die Männer bräuchten halt ein bisschen länger, um sich für das WG-Leben zu begeistern. Das könne sie nicht so richtig verstehen.
Dagmar Habl, Heinz Dohrmann und Maria Kammer sind drei von 2,4 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland. Drei Menschen, die eine Entscheidung getroffen haben: für eine Pflege, von der sie sagen, sie sei genau das Richtige für sie. Zu Hause, im Heim oder in der Wohngemeinschaft: „Das Wichtigste ist eine liebevolle Atmosphäre mit Menschen, die die Wünsche der Betroffenen respektieren“, sagt Ulrike Jaeger von der Diakonie Südstern. Nur so könne gute Pflege gelingen. Selbstbestimmt und in Würde.

Text: Wolf-Hendrik Müllenberg

Adressen

Hier geht es direkt zur Diakonie-Sozialstation Südstern und zum Lazarus Haus: